Schwerpunkt: Politik – Bundestage
70 Jahre Grundgesetz – Ein Grund zum Feiern?
Fr., 17.05.2019
70 Jahre GG – ein Grund zum Feiern? Für wen eigentlich?
Im Plenarsaal unter der Reichstagskuppel wird es im Mai anlässlich des 70-jährigen Jubiläums pathetische Worte geben. Zu Recht, wird es heißen, gilt doch das Grundgesetz mit seinen 19 Grundrechten – dem unveränderlichen Kern des GG – als vorbildlich. Während es in anderen Ländern Verfassungsänderungen gegeben hat, die mehr als alarmierend sind, kann das Grundgesetz seit seinem Inkrafttreten am 23. Mai 1949 als eine stabile Verfassung angesehen werden.
Aber wie sieht es mit der Verwirklichung der Grundrechte aus? Viele der Grundrechte-Artikel sind, so die verbreitete Einschätzung, nur unzureichend realisiert. Denken wir nur an den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 GG) oder die Gemeinwohl-Pflicht von Eigentum (Art. 14 GG), und erst recht an das Menschenwürde-Gebot (Art. 1 GG), das tragende Prinzip im System der Grundrechte.
Haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes, die bei der Erarbeitung des umfangreichen Werkes die Schrecken der Nazi-Herrschaft vor Augen hatten, geahnt, dass es – auch nach Jahrzehnten – noch so viel zur Verwirklichung der individuellen Grundrechte brauchen würde?
Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes gibt es viele. Dazu gehört z.B. die Forderung nach individuellen Abwehrrechten angesichts von Big Data und der Machtkonzentration bei den Betreibern „sozialer“ Netzwerke. Gefordert werden auch die Aufnahme von Kinderrechten und ein weitergehender Tierschutz im Grundgesetz. Die GRÜNEN streben die Verankerung des Klimaschutzes an und die Fraktion DIE LINKE setzt sich seit Jahren für die Aufnahme sozialer Grundrechte in die Verfassung ein.
Betrachten wir die Verfassungswirklichkeit in einzelnen Lebensbereichen – z.B. die Ursachen von Armut, Wohnungs- und Obdachlosigkeit oder die eingeschränkte Freizügigkeit (Reise- und Bewegungsfreiheit) bestimmter Bevölkerungsgruppen –, so stellt sich die Frage noch einmal neu, ob 70 Jahre Grundgesetz tatsächlich für alle ein Grund zum Feiern sind.
Wie sähe die
bundesrepublikanische Wirklichkeit aus, wenn es soziale Grundrechte, wie etwa verfassungsrechtlich einklagbare
Leistungsansprüche auf Wohnen, soziale Sicherung, Bildung u.a.m. gäbe? Was steht
der Einführung sozialer Grundrechte entgegen?
Oder, bleiben wir bei dem, was uns als Verfassung gegeben ist: Wo liegen die
Barrieren einer konsequenten Verwirklichung der Grundrechte? Was sind die
Gründe dafür, dass das Menschenwürde-Gebot – obwohl in Parlamentsdebatten immer
wieder bemüht – offenkundig so wenig mit Leben gefüllt wird, dass es manchen
als leere Formel gilt? Was sind die
Gründe dafür, dass z.B. der Wohnungsmarkt von der Gemeinwohl-Pflicht des
Eigentums letztlich ausgenommen ist, obwohl der Rendite-Hunger Einzelner
inzwischen Tausende in Not gebracht hat?
Über diese und weitere Fragen wollen wir mit dem Justiziar und rechtspolitischen Sprecher jener Bundestagsfraktion reden, die sich für eine Weiterentwicklung des Grundgesetzes einsetzt und die Aufnahme weiterer Freiheits- und sozialer Grundrechte anstrebt. Unser Gesprächspartner war viele Jahre als Sozialrichter tätig, bevor er im September 2017 in den Bundestag gewählt wurde.
Zur Vorbereitung auf das Gespräch werde ich auf Aspekte des Grundgesetzes (Entstehung, Struktur) eingehen, auf einzelne Grundrechte und Probleme der Verfassungswirklichkeit sowie auf Einflussmöglichkeiten von Oppositionsparteien. Die Einführung findet im Regierungsviertel statt (Genaueres, wie immer, wenige Tage vor dem Termin). Treffpunkt, kurzer Fußweg und Gesprächsort werden voraussichtlich Barriere-arm sein. Für das Gespräch mit dem Abgeordneten sind ca. 1,5 Stunden vorgesehen.