Schwerpunkt: Politik – Bundestag
„Gerechter Reichtum“? „Gerechte Armut“? – Erfahrungen einer Partei-Vorsitzenden
Di., 11.07.2017
Gerechtigkeit ist ein großes Wort. Die Vorstellungen davon, was gerecht sei, klaffen auch im Bundestag weit auseinander. Selbst in Debatten über scheinbar Konkreteres wie etwa „Chancengerechtigkeit“ oder „Steuergerechtigkeit“ zeigt sich immer wieder, wie konträr und teilweise diffus die Vorstellungen über Gerechtigkeit sind.
DIE LINKE strebt eine „sozialökologische Gerechtigkeitswende“ an. Damit will sie den mit den Hartz-Gesetzen geschaffenen bzw. forcierten sozialen Problemen in Deutschland begegnen. Eine solche Wende biete aber auch Lösungsansätze für die großen Menschheitsaufgaben: Klimaschutz und Kampf gegen Armut weltweit.
Ist die Realisierung dieser Ziele vorstellbar? Steht dem nicht ein Menschenbild entgegen, das auf den Punkt gebracht lautet: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen?“
Das Bundesverfassungsgericht scheint frei von dieser Sichtweise. In dem viel zitierten Regelsatzurteil vom 9.2.2010 stellte es klar: Die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) sichere
„jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“[1]
Menschenwürde-Gebot hin, Sozialstaatsprinzip her – seit dem Urteil waren Monat für Monat über 10.000 Erwerbslose totalsanktioniert.[2] Das bedeutet: Die Jobcenter verfügten die Streichung aller staatlichen Leistungen, einschließlich der Kosten der Unterkunft. Lebensmittel-Gutscheine sollen das Überleben sichern.
Anträge der Opposition auf einen Stopp der Sanktionen (Bündnis 90/Die Grünen) oder eine (generell) sanktionsfreie Grundsicherung (DIE LINKE) hatten bis dato keine Chance im Parlament.
„Gerechtigkeitswende“ meint noch viel mehr, aber was sind die Voraussetzungen dafür?
Wer öffentliche Diskussionen zu sozialpolitischen Fragen erlebt, Konferenzen, aber auch Parlamentsdebatten, könnte meinen, die Welt teile sich auf in „Leistungsträger“ und „Leistungsempfänger“. Das gute Leben ist Ergebnis von Leistung? Wie sieht es mit der Chancengerechtigkeit bei Kindern aus, die in Hartz-IV-Haushalten leben? Und wie erst bei denen, die von der Sanktionierung eines Elternteils auch getroffen werden?
Die Abgeordnete, mit der wir zum Gespräch verabredet sind, tritt seit Jahren für ein Ende der Sanktionen ein. Seit Juni 2012 teilt sie sich den Partei-Vorsitz zusammen mit einem langjährigen Gewerkschaftsführer. Mit 20 Jahren war sie der Partei (damals noch PDS) beigetreten, sie hat die Neuformierungen miterlebt und mit gestaltet. Unterschiedliche Strömungen mussten sich „zusammenraufen“, aber bezüglich der Zielvorstellungen ist sie vielleicht die beständigste unter den Oppositionsparteien. Schwerpunkt und gewissermaßen „Markenzeichen“ der Partei sind ihre sozialpolitischen Forderungen. Aber warum, so der verbreitete Eindruck, findet sie mit diesen so wenig Gehör?
Welche Erfahrungen hat unsere Gesprächspartnerin in den über 11 Jahren seit ihrer Wahl in den Bundestag gemacht? Mit welchen Denkmustern, welchen Barrieren ist sie konfrontiert? Aus ihrem Wahlkreis in Sachsen und aus vielen Debatten im Bundestag ist ihr das Menschenbild vertraut, das in Begriffen wie „Leistungserschleicher“ oder „Leistungsverweigerer“ aufscheint – mal unbedacht hingeworfen, mal im Brustton der Überzeugung formuliert.
In den Diskussionen um eine andere Steuerpolitik sind es meist Vertreter_innen der etablierten Parteien, die eine Anhebung z. B. der Erbschaftssteuer ablehnen. Gibt es das: einen „gerechten Reichtum“? Und wenn ja, gibt es dann auch eine „gerechte Armut“? Ist das eine wie das andere ein „Verdienst“ im Sinne eines „wohl verdienten“ Ergebnisses von Leistungen?
Diese und ähnliche Fragen, und natürlich auch die Fragen, die Sie mitbringen, werden Gegenstand des Austauschs sein.
Wie es um die Chancen einer „Gerechtigkeitswende“
steht, hängt auch vom Wahlausgang ab. In meiner Einführung, der Vorbereitung
auf das Gespräch, wird es allerdings weniger um Spekulationen und
Wahlkampf-„Geklimper“ gehen, sondern vielmehr um den Kern der praktizierten
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und die dahinter stehenden Annahmen. Für den
einführenden Teil – auf dem kurzen Fußweg zum Bundestag mit wenigen Stopps –
ist etwa 1 Stunde eingeplant, für das anschließende Gespräch ca. 1,5 Stunden.
[1] BVerfG, 1 BvL 1⁄09 vom 9.2.2010, Absatz-Nr. (1 – 220), http://www.bverfg.de/entscheidungen/ls20100209_1bvl000109.html
[2] http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/122/1712247.pdf (dort Nr. 16)